creatives from ukraine

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Die ukrainische Agenturinhaberin Iryna Kuznetsova findet Zuflucht mit ihrer Familie bei ihrem Bruder in Bad Homburg. Neun Tage nach Kriegsbeginn fliehen sie aus ihrer Heimat Kiew. Dort leitete sie eine britisch-ukrainische Werbeagentur mit 40 Angestellten. Jetzt sucht die Marketingspezialistin eine Position in der Kreativbranche – für ein ungewisses neues Leben, das sie nicht geplant hatte. Feels like Hessen hat sie getroffen.

Text: Paul Kremershof

Bis zum 24. Februar führte Iryna Kuznetsovas die erfolgreiche Werbeagentur J&I Advertising in der Kiewer Innenstadt. Das Kundenportfolio listet weltbekannte Namen: Danone, Coca-Cola, Ferrero Rocher, Jacobs oder Nestlé. Doch am Tag des Kriegsbeginns dachte niemand in der Agentur mehr an Kampagnen, Redaktionspläne sowie Produktionstermine. Seit dem Geheul des ersten Flugalarms um fünf Uhr an jenem Morgen sind alle in Panik. Alle zwei Stunden ertönen die Sirenen und die Menschen suchen Schutz in U-Bahn-Schächten oder in unterirdischen Parkhäusern.

Als vor gut einem Jahr die russische Armee vor der ukrainischen Grenze aufzumarschieren begann, dachten sie an einen Bluff. Dann das Unfassbare: die militärische Invasion der Ukraine bricht über sie mit Ungläubigkeit herein. Sie dachten, der Krieg wäre nach wenigen Tagen wie einst 2008 in Georgien vorüber. Doch schnell zerschlagen sich die Hoffnungen auf ein schnelles Ende mit Schrecken, als die Truppen vorrücken. Iryna und ihre Familie bringen sich zunächst bei Freunden in einem Kiewer Vorort in Sicherheit. Die fünfköpfige Familie beschließt, nach Deutschland zu fliehen. Iryna hat einen Bruder in Bad Homburg, ein Hochschulprofessor der Technischen Hochschule Mittelhessen. Er lebt seit 20 Jahre hier und hat die deutsche Staatsangehörigkeit. “If you have friends and family, you have possibilities”, sagt sie dankbar.

Die Fahrt mit dem Auto von Kiew bis Bad Homburg dauert sieben Tage und führt durch sieben Länder: Moldawien, Rumänien, Ungarn, Slowakei, Österreich und schließlich Deutschland. Die Reise verläuft nur schleppend. In der Ukraine müssen sie alle zehn Kilometer einen Checkpoint passieren, mit Wartezeiten von rund einer Dreiviertelstunde. Unterwegs beobachten sie viele Unfälle. Die Menschen auf der Flucht sind übermüdet. Und es seien viele Frauen, die das Autofahren nicht gewohnt sind, erzählt sie. Ihr Mann und ihr ältester Sohn entgehen knapp der Zwangsrekrutierung. Die Generalmobilmachung untersagt Männern zwischen 18 und 60 die Ausreise. Väter von drei minderjährigen Kindern sind jedoch freigestellt. Der Sohn ist 17. Er wäre lieber in den Luftschutzkellern in Kiew geblieben; er war gerade zum ersten Mal verliebt.

Wie es Iryna in Bad Homburg geht? “Mixed Feelings. Wir sind sicher, wir sind gesund. Aber wir hatten nicht vorgehabt, ein neues Leben zu beginnen”, antwortet sie. Sie und ihr Mann haben beide keine Einkommen mehr. Die studierte Journalistin machte Karriere bei McCann Erickson als Werbetexterin, wechselte dann zu der Hamburger Werbeagentur Scholz & Friends. Schließlich gründete sie mit der britischen Werbeikone John Bailey das Unternehmen J&I Advertising, das eigene Initial im Firmennamen machte sie stolz. Zu ihren ehemaligen Mitarbeitern, die ebenfalls teils nach Deutschland geflohen sind, hält sie regen Kontakt. In ihrem letzten Instagram-Post kündigt sie an, die Arbeit mit ihrem Team dezentral wieder aufzunehmen, was sich angesichts der gegenwärtigen Lage in der Ukraine weiterhin schwierig gestalten dürfte. Unterdessen sucht sie in der Rhein-Main-Region nach einem Job in einer PR- und Werbeagentur. Unter den knapp 300.000 geflüchteten Ukrainern finden sich mehr und mehr Talente wie Iryna. Die Plattform Design Made in Germany hat jüngst eine Unterseite ins Leben gerufen, auf der Job-Angebote und Arbeitsräume für ukrainische Kreative inseriert werden können